Alfons Feger berichtet über eine Reise ins Tiroler Kriegsgebiet


Artikel im "Liechtensteiner Volksblatt", gez. A.F. (Alfons Feger) [1]

27.8.1915

Eine Fahrt ins Tiroler Kriegsgebiet

(Aus "N. Zürch. Nachr. [Neue Zürcher Nachrichten]") [2]

Schon in Feldkirch beginnt die peinlich genaue Kontrolle der Reisedokumente, Feldgendarmen in der ansprechenden hechtgrauen Uniform und Geheimpolizisten in Zivil überwachen die Züge; wessen Papiere nicht in Ordnung sind, der wird bei der nächsten Station ausgeladen. Ernst, bestimmt, doch nicht ohne jede charakteristische Freundlichkeit, welche den Österreichern ein so grosses Stück Beliebtheit in der Welt verschafft, geht die Untersuchung der Pässe und Reiseeffekten vor sich. Die Zollbeamten haben es vornehmlich auf Briefe, ausländische Zeitungen und Zeitschriften abgesehen und ich begreife die sorgfältige Durchsuchung des Gepäcks, nachdem man sogar auf dem nackten Leibe visitierter Personen durchzuschmuggelnde Papiere fand.

Langsam fährt der Zug durch das schöne Klostertal den Arlberg hinan, längs der Bahnlinie stehen militärische Posten, bei jeder Station, bei jeder Haltestelle, bei jedem Wärterhäuschen eine grössere Wache. Prachtvoll leuchten die schnittreifen Getreidefelder im Golde der Abendsonne, in kleinen Wäldern steht der Mais prächtig da, in grossen Flächen die Kartoffeläcker und versprechen vielverheissende Ernte. Dazwischen das kräftige, saftige Grün der Wiesen an den Berglehnen, im Hintergrunde die gemütlichen Tiroler Dörflein mit den frommen Kirchen und Kapellen, über ihnen majestätisch tronend das tiefgründige, sehnsuchtsvolle Geheimnis der ewigen Berge – o Heimatscholle, Vaterland, du bist es wert, dass wir alles einsetzen für deine Freiheit! "Ganz widernatürlich wär selb", meint zu mir ein altes Bäuerlein und schaut leuchtenden Auges in die verklärte Landschaft, "ganz widernatürlich, wenn der Walsche einerkimmat in unser Landl; dös kann der Herrgott wohl net leicht zulassen."

Innsbruck hat ein verändertes Verkehrsbild erhalten; sonst um diese Jahreszeit mit Fremden überflutet, zeigt sich nur selten ein Tourist; überall Militär, Militär aller Waffengattungen, Militär aller Nationen Österreichs. Sie kam allen überraschend, die geschlossene Einheit der österreichischen Völker bei Ausbruch des Krieges; heute kämpft der Tscheche mit dem Deutschböhmen, der Kroate mit dem Ungarn einträchtig Schulter an Schulter. Hermann Bahr konnte mit vollem Rechte von einem "österreichischen Wunder" reden. [3]

Als ich am andern Tage die letzten notwendigen Dokumente für die Reise über den Brenner besorge, regnet es in dem lieben Innsbruck in Strömen. In zuvorkommender Weise wird meinem Ansuchen von seiten des Staatsmagistrats und der Militärbehörde entsprochen. Machte es mein vertrauenerweckendes Gesicht oder meine Zugehörigkeit zum neutralen Liechtenstein? Dass eine Fahrt ins Kriegsgebiet gegenwärtig nur schwer gestattet werden kann, liegt auf der Hand. Schwer schnauft der mit Militär überfüllte Schnellzug den Brenner hinan; russische Gefangene arbeiten längs der Bahnstrecke, unter ihnen starke, kräftige Gestalten von imponierendem Wuchs, mit intelligenten Gesichtern, andere verblödet, die wie die Tiere stundenlang vor sich hinstarren. Die sibirischen Soldaten fallen gleich durch ihr verwildertes Aussehen auf. Allen ist eine unglaubliche Faulheit eigen. In Franzensfeste sehe ich die erste Eskorte italienischer Kriegsgefangener, hübsche, gebräunte Kerle, einige verwundet. Stimme aus dem Publikum: "So, sind Sie auf dem Marsche nach Wien?" Die Gefangenen sahen finster vor sich hin im Gegensatz zu manch andern, die ich nachher sah; diese waren äusserst heiter und vergnügt und konnten nicht laut genug ihrer Freude Ausdruck verleihen, ihre Haut in Sicherheit gebracht zu haben. Desertionen italienischer Soldaten finden häufig statt, und manche der Übergehenden erklären mit lachendem Munde: "Sollen etwa wir den Eid halten, nachdem unser König [Viktor Emanuel III.] so gehandelt hat?!" – Sie werden vielleicht grimmigen Hass der Tiroler gegen das treulose Volk der "Walschen", wie sie das Volk nennt, erwarten. Dazu ist der österreichische Charakter zu vornehm. Kein Hass, aber – Verachtung. Die Stimmung des Tiroler Volkes ist zuversichtlich auf den siegreichen Ausgang: Wir müssen siegen, denn mit uns ist die Gerechtigkeit und der Herrgott.

Als ich in Toblach einfuhr, zog ein Aeroplan in friedlichem Gleitflug durch das klare Blau der Luft. Gar arge Verheerungen hatten die Bomben der Flieger im nahen Cortina angerichtet. Zwei Tage vor meiner Ankunft war ein Flieger, als er den Flug in feindliches Gebiet machen wollte, zu Tode gestürzt, ein junger, lebensfroher Leutnant. Der Ort, sonst ein internationaler Kurort – Hunderte von Erholungsbedürftigen weilten jeden Sommer hier – ist arg verändert. Die grossen Hotels sind geschlossen und im Grand-Hotel ist ein Spital eingerichtet.

Ein Besuch im Feldspital! In langen Reihen liegen sie nebeneinander, Freund und Feind, halbergraute, bärtige Männer, blutjunge Bürschlein mit Mädchengesichtern. Schwerverwundete, Leichtverwundete, Rekonvaleszenten in verschiedenen Sälen untergebracht. Die meisten sind beim Sturm auf den Monte Piano verwundet worden. Fürchterliches haben manche in jener Nacht durchgemacht, welche dem Heldenbuche der unvergleichlichen Tiroler Kaiserjäger ein unvergängliches Ruhmesblatt beifügten. Ich entdeckte unter den Schwerverwundeten einen alten Bekannten: Zwei Tage war er ohne Nahrung auf seinem Posten gestanden, da bekam er vor acht Tagen einen Bauchschuss, seither liegt er ohne jegliche Nahrungsaufnahme im Spital; denn die geringste Menge von Nahrung könnte sein Tod sein. "Dieselbige Nacht, net wenn i hundert Jahr alt werd', vergiss' i sie", versichert ein anderer, dem eine Steinlawine eine schwere Verletzung des Rückgrates geschlagen.

Eigentümlich: Auffallend zahlreich sind bei den österreichischen Verwundeten die Schüsse in den Bauch. Mit welchem Schauermärchen über die Österreicher müssen die italienischen Soldaten nicht gefüttert worden sein: Ein Alpini, der operiert werden musste, bat winselnd um sein Leben. Er glaubte, er werde nun abgeschlachtet. Die italienischen Verwundeten sind des Lobes voll über die zuvorkommende Behandlung. Als ich einen – der arme Kerl war durch einen Granatsplitter an der Schulter schwer verwundet und sprach kein Wort deutsch – als ich nach seinen Angehörigen frug, da fing er laut an zu weinen und konnte nicht mehr reden. Sie tun einem doch leid, die armen Burschen, die von ihren gewissenlosen Drahtziehern so ins Elend gebracht werden. Wie man sich erzählt, habe der italienische König dem Kampf um den Monte Piano beigewohnt und sei bis in das nahe Misurina gekommen. Als die Soldaten geschlagen zurückkamen, da küsste er sie und weinte. Povero Re!

Während ich diese Erlebnisse und Eindrücke zu Papier bringe, dröhnt von den nahen Dolomiten herunter das Krachen der schweren Geschütze; die Spitzen und Zinnen der Berge flammen und funkeln in der Abendsonne. Die Söhne dieses herrlichen Landes halten oben treue Wacht. Mein Blick schweift von meinem Arbeitszimmer hinauf zu dem seit kurzem errichteten Soldatenfriedhof dort oben am Rande des grossen, dunkeln Tannenwaldes. Das zur Neige gehende Tagesgestirn grüsst die Ruhestätte der Helden, die für ihr liebes Land Tirol den Tod erlitten. Täglich in der Morgenfrühe werden sie beigesetzt, in einfachen, roh gezimmerten Särgen, manchmal zu Zweien in einem Grabe. Ihre Ruhestätte bezeichnet ein schlichtes Holzkreuz, darauf die Personalien, das Datum des Todes, und auf jedem die Inschrift: "Gefallen für Kaiser und Vaterland!" – Gott schütze dich, du blutig roter Tiroler Aar, Gott schütze dich, du heiliges Land Tirol!

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[1] L.Vo., Nr. 35, 27.8.1915, S. 3. Feger berichtete im Dezember 1915 zudem über eine Reise an die österreichisch-italienische Front (L.Vo., Nr. 52, 24.12.1915, S. 1f.L.Vo., Nr. 53, 31.12.1915, S. 1-3 ("Bei den Tirolern an der Front")).
[2] Neue Zürcher Nachrichten, Nr. 225, 17.8.1915, 2. Bl., S. 1f.
[3] "Das österreichische Wunder": Aufsatz von Hermann Bahr, basierend auf einem Vortrag, den Bahr im März 1915 in Stuttgart hielt. Erschienen in: Hermann Bahr: Das österreichische Wunder. Reise nach Salzburg, Stuttgart 1915, S. 3-36.