Martina Gstöhl an ihre Schwester Balbina Gstöhl über das Hilfspaket aus Amerika, die teuren Stoffe in Österreich, die Mehlrationen, den Zuckerpreis, den Kurs der Franken- bzw. Kronenwährung, die allgemeine Not, die Bauern als Kriegsgewinnler sowie den Neid der Leute


Handschriftliches Originalschreiben (Fragment) der Martina Hartmann [-Gstöhl], Ludesch (Vorarlberg), an ihre Schwester Balbina (Marie Balbina Öhri [-Gstöhl]), Spencer (Nebraska) [1]

08.03.1921, Ludesch (Vorarlberg)

Liebe Schwester u. Familie! [2]

Haben das Paket schon
vor einigen Tagen erhalten, u. glaubte
ein Brief noch zu bekommen, darum
erst heute Antwort. Sagen viel tausend
mal Vergelt’s Gott für das erhaltene.
O bin ich froh um all diese Sachen.
Hätte müssen [3] der Tochter [Katharina] auf den
Sommer Kleider anschaffen, jetzt kann
sie diese am Sonntag tragen u. ihre
die alten Sonntagkleider am Werktag.
Zu lang sind ihr die Röke, aber besser
zu lang als zu kurz, werde ihr alles
schon richten. Du schreibst für nach
der Schule zum tragen, diese Kleider
kann sie alle noch am Sonntag tragen,
z. B. das Kostüm, das werde ich wenden,
dann giebt es das schönste Kleid. [4]
Tochter hat schon gesagt, jetzt da man
ihr keine Kleider kaufen dürfe, so könnte
man ihr Stoff kaufen zu Unterhosen, die
will immer Hosen, Sommer u. Winter,
u. dann wenn ich mein es kommt zu teuer,
dann sagt sie, ich gehe nicht unter die
Leute ohne Hosen. Verhanden im Paket:
Waren 4 noch so schöne Blousen, dann
3 Röke u. das Kostüm. Ferner für
Mann [Johann Josef Hartmann] so schöne Schuhe u. 2. Stk Gesichts-
seife 2 Stk. Schokolade u. ebenfalls 2 Schachteln.
Nochmals für Alles ein tausendfaches,
Vergelt es Euch Gott allen miteinander.
Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen wie
froh, dass wir um diese Sachen sind.
Ich habe wollen für mich ein Rock,
od. besser Stoff zu einem Rock kaufen,
der wäre aber weit über tausend
Kronnen gekommen. Habe wollen am
Mann Stoff kaufen zu 2 Hemden [5]
aber nicht etwa ein besserer Stoff,
nur geringer, wäre auf 1200 Kr.
gekommen, da bin ich halt wieder heim
ohne Stoff u. wieder Flek auf Flek
geflikt. Seit am 15.1. bezahlen
wir für 1 Lt Milch 7 Kr. kaufen
täglich 1 ½ Lt. denn wenn man in der
Woche blos 25 dg. Kochmehl u. 25 dg.
Maismehl auf den Kopf bekommt,
muss man fast Milch haben, denn
Eier, Fleisch u. Schmalz haben wir
auch nicht, u. wenn ich kein Kaffee
habe, dann bin ich gar nichts, weil
ich das andere, das meiste nicht brauchen
kann. Die letzte Woche habe ich mit
einem Schein vom Arzt, welcher
10 Kr. kostete, 1 Kg. Zucker bekommen
das Kilo zu 96 Kr. also das Kilo
Zucker 106 Kr. u. dann muss man
noch überall herrum rennen bis
man nur bekommt, u. ohne Zucker [6]
ist auch nicht immer gut, wir haben
jetzt, Zeit von ¾ Jahren „8“ dg. auf
den Kopf also „24“ dg. bekommen u. ich
mache oft Apfelstrudel weil wir
kein Fleisch bekommen, wenn kein Vieh
verreckt. Dann brauche ich nicht viel
Mehl u. kein Schmalz od. doch nicht viel u.
keine Eier.

Wie geht es Euch, fühlt sich Ulrich [Öhri] immer
noch nicht gut u, wie geht es Dir mit dem
geschwollenen Gesicht, ist es wieder besser.
Schieket uns einmal ein Bild von Euerm
Haus, Ihr könnts ja selber machen.
Ich würde Euch gerne ½ Jahr hieher
versetzen, damit Ihr sehen könnt, wie
es Euch gewiss grad aneckeln würde, wie
es hier traktirt wird.

Habe auch schon oft wollen anfragen
und immer beim Schreiben darauf verge-
gessen, wie geht es Daniels, wo sind sie
was thun sie, haben selbe auch Farmen? [7] 
Sind sie verheiratet? Hast Du von unserm
Vetter od. dessen Söhne nichts mehr
gehört? Hier ist eine Frau die hatte
eine Tochter in Amerika, jetzt ist sie
aber gestorben, aber der Mann u. die
Kinder leben noch, ich glaub fast sie sagte
in Minasota seiens. Auch ein Sohn
von ihr ist in Neujork. Ich war letzthin
bei ihr, so 20 Minuten von hier, sie
bekommt auch Pakete. Letzt hin hat sie
60 Pfund Lebensmittel durch die Hilfs-
akton von ihnen erhalten. Mann kann
selbe aber nur an gewissen Orten
aufgeben, vonwo sie dann unter
Aufsicht nach Deutschland befördert
werden. Hier heisst es immer in den
Zeitungen wie in Amerika alles
abgeschlagen u. bei uns schlägt alles
täglich riessig auf. Aber warum?
Der Franken ist immer noch bedeutend
über 100 Kronnen, früher warens gleich, [8]
und wir müssen alles vom Aus-
land beziehen. Auch die Regierung
hilft zur Teurung. Hat sie nämlich
wieder die Ausfuhr von Leder u.
Schuhe bewilligt u. hier hatt u.
vermag man keine Schuhe. Wir
haben grad gestern vom Schuster, Schuhe
welche er gesohlt für mich u. Tochter
aber nur für Tochter Ansatz gerichtet
kostet 290 Kr., früher hätte man
fast für sein Lebtag Schuhe kaufen können
Und dann vom kosten muss man
bald nicht mehr reden, hier hats sehr
viele Leute wo nicht einmal mehr
ein Zündhölzchen haben zum Feuer
auf machen. Die Bauern die machen
jetzt schon viel Geld, die kommen jetzt
grad so in die Höhe, wie die armen
zu Grunde gehn, denn was es bei
den unversorgten für unterernährte [9]
Leute giebt Kinder u. Erwachsene,
das ist furchbar. Zürnet es mir daher
nicht, wenn ich Euch immer u. immer an-
bettle. Es möchte sich halt jedes vor dem
langsamen Unterernährungstode hüten.
Es würde ohne Euch auch uns so ergehen,
entweder ohne Kleider oder ohne Kost
für beides würde es nicht hinreichen,
der Verdienst. Unser Vater [Franz Josef Gstöhl], Gott hab
ihn selig, kommt mir oft in den Sinn,
ich sage es oftmals, der hat dann gesagt,
das verdiente Geld hat gar kein Bschuss. [10]
Heute ist es so, o unsere Eltern u.
Vorfahren würden drein schauen, wenn
sie jetzt in das Österreich versetzt
würden. Wie hier der Neid über-
hand nimmt, wenn unsereins etwas
bekommt z. B. ein Paket, ich sag Euch
ärgern tut sich der andere daran.
Könnt ich Euch nur alles schreiben
was man gegenwärtig erfährt,
von den Nebenmenschen. [11]
Wir haben halt grosse Freud gehabt, an
all dem was wir von Euch bekommen, u.
haben es unserm Hausherr gesagt auch
wegen den Check [12]. Letzt hien haben wir Holz
gespalten er für ihn u. ich für uns, da sagte
ich, wenn ein Haus zu kaufen wäre, würden
wir es kaufen, da sagte er das würde ich
nicht thun ich würde die Wertpapiere ein-
lösen u. würde für alles Geld, Kleider u.
Lebensmittel vom freien Handel um jeden
Preis kaufen. Er kann es gar nicht haben,
dass wir reden von etwas kaufen, so ist
heute der Neid, das hat er aber seither
schon 5-6 mal gesagt, er meint ich müsse
das Geld unbedingt fast wegwerfen u.
ich habe geglaubt es sei noch einer von
den besser Gesinnten. Wie gesagt die
Arbeiterleut welche nichts eigenes besitzen,
scheint mir, würde man am liebsten
zu Sklaven machen, das fehlt eben noch,
dass gar zu viele sind: Am 15. dieses Monats [13]

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[1] LI LA PA 016/3/11/10.
[2] In lateinischer Schrift.
[3] Ursprüngliche Fassung: „müẞen“. Das Eszett wird im Folgenden zu „ss“ umgewandelt.
[4] Seitenwechsel.
[5] Seitenwechsel.
[6] Seitenwechsel.
[7] Seitenwechsel.
[8] Seitenwechsel.
[9] Seitenwechsel.
[10] „Bschuss“: Gedeihen, Nutzen, Vorteil.
[11] Seitenwechsel.
[12] In lateinischer Schrift.
[13] Der Brief bricht hier ab.