Die liechtensteinische Gesandtschaft in Wien ersucht die liechtensteinische Regierung um einen förmlichen Auftrag in der Frage der diplomatischen Vertretung des Fürstentums durch die Schweiz


Maschinenschriftlicher Auszug aus einem Bericht der liechtensteinischen Gesandten in Wien, Prinz Eduard, ungez., zuhanden der liechtensteinischen Regierung [1] 

2.10.1919, Wien 

4.) In den letzten Tagen besuchte mich der schweizerische Gesandte [Charles-Daniel Bourcart] und brachte ich die Frage zur Sprache, wie es denn eigentlich mit der Übernahme der Vertretung Liechtensteins in jenen Staaten, in denen es sich nicht durch eigene Vertreter repräsentieren lässt, durch die Schweiz stehe. Er erwiderte, dass er von seiner Regierung diesbezüglich keinerlei Mitteilung erhalten habe. Wir einigten uns dahin, dass ich ihn wieder bitten würde, in Bern die Angelegenheit zu urgieren und zu fördern, falls ich von der fürstlichen Regierung einen diesbezüglichen Auftrag erhalte. Es wäre meines Erachtens Sache des Berner Geschäftsträgers [Emil Beck] auf die Sache nachdrücklichst zurückzukommen und müsste die diesbezügliche Note Bourcarts etwa gleichzeitig eintreffen. Ich bitte also um diesbezügliche Weisungen nach gepflogenem Einvernehmen mit Dr. Beck.  

Bourcart sprach in diesem Zusammenhange auch über die Vorarlberger Frage, [2] bei der er meinte, dass es den Vorarlbergern eventuell gelingen könnte, den Anschluss an die Schweiz beim Völkerbunde noch durchzusetzen, eine Anschauung, die Staatskanzler [Karl] Renner durchaus nicht mehr teilt. Wir erörterten die möglichen Folgen für Liechtenstein und anerkannte er meine Ausführungen, dass derzeit gewiss 4/5 der Bevölkerung durchaus die Selbständigkeit des Landes unter seinem Fürstenhause wünschen. Wenn eine republikanische Welle über das Land kommen sollte, so sei die Gefahr fast grösser, wenn das Land an Österreich grenze, wo man es mit einer neuen, noch stürmisch und agitatorisch auftretenden Republik zu tun habe, während die Schweiz kaum eine agitatorische Tätigkeit im Lande entfachen würde. Er verwies nur auf das Beispiel des ehemaligen Fürstentumes Neuchâtel, welches der Republik Schweiz inkoopiert war und nach etwa 20 Jahren einfach ein Kanton wurde [3] und warnte vor einer staatsrechtlichen Verbindung. [4]

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[1] LI LA RE 1919/5027 ad 0589 (Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien: 240/4). Das Dokument langte am 11.10.1919 bei der Regierung ein. Stenographische Bemerkungen. Das vollständige Dokument findet sich unter LI LA V 003/0057.
[2] Nach dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie entstand in Vorarlberg eine Bewegung für den Anschluss des Landes an die Schweiz. Die Vorarlberger Bevölkerung sprach sich in der Volksabstimmung vom 15.5.1919 mit ca. 80 % für die Aufnahme von Verhandlungen mit dem Schweizer Bundesrat über einen Beitritt zur Eidgenossenschaft aus. Befürworter der Anschlussbewegung wie auch der Gegner führten wirtschaftliche Gründe ins Treffen. Der Staatsvertrag von St. Germain vom 10.9.1919 bereitete diesen und anderen Separationsbestrebungen ein Ende.
[3] Neuenburg war sowohl zugewandter Ort der Eidgenossenschaft als auch – seit 1707 und mit einer Unterbrechung von 1806 bis 1814 – ein Fürstentum in der Hand der Hohenzollern. 1814/1815 wurde Neuenburg als Kanton in die Eidgenossenschaft aufgenommen, gleichzeitig wurden die preussischen Hoheitsrechte restauriert. 1848 gab sich Neuenburg eine republikanische Verfassung. Nach einem gescheiterten royalistischen Putsch verzichtete der preussische König 1857 endgültig auf seinen Anspruch auf das Fürstentum Neuenburg.
[4] Landesverweser Prinz Karl ersuchte die liechtensteinische Gesandtschaft in Bern mit Schreiben vom 17.10.1919 im Sinne der genannten Ausführungen der Wiener Gesandtschaft zu wirken. Prinz Karl erwähnte dabei, dass er diese Fragen bereits Ende April 1919 gegenüber Bundesrat Felix Calonder angeschnitten habe. Der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien teilte Prinz Karl gleichentags mit, dass er die Angelegenheit anlässlich des Besuches von Gesandtschaftsträger Emil Beck in Vaduz am 15. und 16.10.1919 besprochen habe (LI LA RE 1919/5027 ad 0589 revers). Gemäss einer „Information" des liechtensteinischen Legationssekretärs Alfred von Baldass über seine Besprechung mit dem schweizerischen Gesandten Bourcart vom 20.11.1919 sprach die schweizerische Regierung Ende Oktober auf Intervention des liechtensteinischen Geschäftsträgers Beck bei der französischen, italienischen, englischen und deutschen Regierung inoffiziell an, ob dieselben der Vertretung des Fürstentums Liechtenstein durch die Schweiz ihre Zustimmung erteilten, wobei „durchwegs" und inoffiziell das Einverständnis der betreffenden Regierungen erteilt wurde (LI LA V 003/0070 (Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien: 424/3)).