Landesverweser Josef Peer spricht sich entschieden gegen die Einbürgerung des Wiener Industriellen Salomon Manfred Singer aus und warnt vor der Durchdringung Liechtensteins durch die jüdische Rasse


Maschinenschriftliches Schreiben von Landesverweser Josef Peer, gez. ders., an die fürstliche Kabinettskanzlei in Wien [1]

13.11.1920

Betrifft Dr. M. Singer

Sehr verehrter Herr Kabinettsrat [Josef Martin]!

Gegen Mitte Oktober 1920 erschien eines Tages der Herr Landtagsabgeordnete Dr. [Eugen] Nipp bei mir und teilte mir vertraulich mit, er sei von dem Industriellen Dr. S. M. [Salomon Manfred] Singer in Wien, Hauptaktionär der Spinnerei Rankweil und der Weberei in Mühleholz, ersucht worden, in folgender Angelegenheit zu sondieren:

Dr. S. plane, die seit längerem stillstehende Weberei in Mühleholz wieder in Betrieb zu setzen, event. auch weiters ein grosses industrielles Aktienunternehmen im Land ins Leben zu rufen, das für das Fürstentum eine sehr ausgiebige Steuerquelle werden dürfte. Die Frage des Herrn Professor Nipp wegen der Erteilung der Konzession für ein solches Unternehmen konnte ich sehr einfach dahin beantworten, dass ein Grund, eine solche Konzession nicht zu erteilen, nicht vorliege, wenn nur der Zweck der zu gründenden Gesellschaft erlaubt und einwandfrei sei, was Herr Professor Nipp ohne weiters zusichern konnte.

Nun kam aber Herr Professor Nipp auf den zweiten Teil, nämlich auf den Wunsch des Herrn S. nach Verleihung der liechtensteinischen Staatsbürgerschaft zu sprechen, dessen Erfüllung in, wie Herr Professor Nipp meinte, unlöslicher Verbindung mit dem Plane der oben erwähnten Gründung stehe.

Ich bemerkte Herrn Dr. Nipp, dass meines Wissens Dr. S. ein Jude sei und bereits kurze Zeit vorher die Regierung in einem gleichen Falle, in welchem die Anfrage ohne Nennung von Namen durch Herrn Dr. [Rudolf] Siebenschein gestellt worden war, letzterem bedeutete, es bestehe wohl keine Aussicht für seinen Mandanten, in Liechtenstein als Bürger aufgenommen zu werden.

Dr. Nipp konnte mir nur sagen, dass seines Wissens Dr. Singer "konfessionslos" sei, während seine Kinder evangelisch sein sollen. Ich machte Herrn Nipp lediglich auf jene Bestimmungen der liechtensteinischen Gesetze aufmerksam, nach welchen die Verleihung des Staatsbürgerrechtes ausschliesslich dem Fürsten [Johann II.] zusteht und die Regierung lediglich die Erhebungen über das Verhalten des Aufnahmswerbers u.s.w. zu pflegen und die Sache sohin dem Fürsten vorzulegen habe. Bei der offenkundigen Wichtigkeit der Sache ihrer finanzieller Seite nach würde ich, so sagte ich Herrn Dr. Nipp weiters, inzwischen solche Erhebungen pflegen.

Dr. Nipp benahm sich in der ganzen Angelegenheit vollkommen korrekt und sah auch ein, dass, falls Dr. Singer ein Jude wäre, die Sache nicht ganz unbedenklich sei.

Ich habe sodann mich an einen mir persönlich verlässlichen Vorarlberger Grossindustriellen um Auskunft über Herrn Dr. Singer gewendet [2] und diese alsbald in einem Brief erhalten, [3] dessen Abschrift ich beischliesse.

Gleich hernach erhielt ich das Schreiben der fürstl. Hofkanzlei vom 16.X. 1920, Zl. 7319, [4] mit zwei Promemoria’s des fürstl. Finanzrechtskonsulenten Dr. Siebenschein vom 9.10.1920, [5] die ich gegen gefl. Rückschluss beilege.

Das Promemoria No. 1, betreffend die beabsichtigte Gründung einer Aktiengesellschaft, ist an und für sich natürlich vollkommen harmlos, der Kern der Sache steckt dafür im Promemoria No. 2 und auch hier in dessen letztem Absatze, in welchem mit dem Wunsche nach Verleihung der liechtensteinischen Staatsbürgerschaft herausgerückt wird.

Ich gestehe nun ganz offen, dass ich der Einbürgerung von Juden – dass Dr. Singer, ehe er "konfessionslos" wurde, Jude war, [6] ist wohl im Ernste nicht zu bezweifeln – in Liechtenstein nicht sympathisch gegenüberstehe. Lässt man sich, verlockt durch die materiellen Vorteile im einzelnen Falle, einmal dazu herbei, mit dieser Rasse anzubandeln, so wird es nicht sehr lange dauern, bis das Land von ihr, sagen wir, penetriert ist, was ich unbedingt nicht für wünschenswert ansehe!

Was auf mich aber geradezu abstossend wirkt, ist die Art und Weise, wie Herr Dr. Siebenschein in Vertretung Singer’s die Sache aufzäumt.

Ich bin nicht naiv genug, zu glauben, dass Herr Dr. Singer zuerst daran gedacht hätte, seine Aktiengesellschaft in der Schweiz zu gründen und dass er erst von seinem Anwalte Dr. Siebenschein auf den Gedanken gebracht werden musste, diese Gründung in Liechtenstein vorzunehmen. Wenn es sich nun auch noch über diesen Punkt reden liess, so liegt die Sache schon erheblich anders bezüglich dessen, was im Promemoria No. 2 gesagt wird. Die lange Einleitung, die Herr Dr. Siebenschein dem eigentlichen Wunsche seines Klienten vorauszuschicken für gut fand, lässt nämlich auch eine Deutung zu, die nichts weniger als sympathisch ist.

Seine Durchlaucht haben bekanntlich dem Lande einen Lebensmittelkredit von Fr. 550‘000. – gewährt. [7] Einen Bestandteil dieser Summe bilden nach der Darstellung des Promemorias auch die von Herrn Dr. Siebenschein beigestellten, auf das Konto Seiner Durchlaucht hinterlegten Fr. 37‘500. –

Man kann nun allerdings bei wohlwollender Auslegung die Sache so nehmen, als ob Dr. Singer den Verzicht auf eine Rückzahlung dieser Summe nur zu Gunsten des Landes erklären wollte; gerade so gut aber kann man sie auch dahin auffassen, dass das Land nun einmal Seiner Durchlaucht dem Fürsten 550‘000 Fr. schuldet, wovon 37‘500 Franken von Herrn Dr. Singer vorgestreckt wurden und nunmehr von letzterem erlassen worden sind.

Seine Durchlaucht der Herr Prinz Karl, mit dem ich über die Sache sprach, weiss von einer Rückerstattung dieser Summe nichts und da auch Herr Dr. Siebenschein davon nichts weiss, dürfte sie eben nicht stattgefunden haben.

Ich finde diese ganze Aufmachung so undelikat und so echt jüdisch, dass ich einfach empört darüber war, dass man sich getraute, mit derselben zu kommen.

Sollte ich in diesem Punkte zu schwarz sehen, so bitte ich es mir zu sagen.

Wie übrigens Herr Dr. Siebenschein erklären konnte, es liege "konfessionell kein Hindernis" gegen die Einbürgerung des Herrn Dr. Singer vor, ist mir schwer verständlich, da ja doch genannter Herr aus dem früheren, von mir oben erwähnten Falle wissen musste, dass die Aufnahme von Juden nicht erwünscht sei und ihm noch weniger unbekannt sein kann, dass Dr. Singer trotz seiner gegenwärtigen Konfessionslosigkeit glattweg als Jude zu bezeichnen ist.

Aufgefallen ist mir, dass Herr Dr. Nipp, offenbar auf Grund der ihm von Dr. Singer gemachten Eröffnungen, ein Junctim zwischen der Gründung der Gesellschaft und der Verleihung der Staatsbürgerschaft an Dr. Singer und seine Familie als feststehend annahm, während Dr. Siebenschein in den beiden Promemoria diese beiden Dinge getrennt und als scheinbar von einander unabhängig behandelt.

Ich bitte Sie nun, sehr verehrter Herr Kabinettsrat, mir Weisungen zukommen zu lassen, wie ich mich bei einem allfälligen weiteren Fortgang der Sache zu verhalten habe. [8]

Mit dem Ausdrucke meiner ganz besonderen Hochachtung bin ich, sehr verehrter Herr Kabinettsrat,

Ihr ganz ergebenster

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[1] LI LA SF 01/1920/160. Weiteres Exemplar unter LI LA SF 01/1920/206. Zur Frage der Einbürgerung des Österreichers Singer vgl. auch LI LA V 003/0979 und LI LA V 003/0980.
[2] Vgl. das "vertrauliche" Schreiben von Landesverweser Peer an den Dornbirner Industriellen Julius Rhomberg vom 15.10.1920 (LI LA SF 01/1920/200).
[3] Eine Abschrift des Antwortschreibens Rhombergs vom 19.10.1920 findet sich unter LI LA SF 01/1920/201.
[4] Vgl. LI LA SF 01/1920/160.    
[5] Abschriften dieser Dokumente finden sich unter LI LA SF 01/1920/197.  
[6] Vgl. das vom Matrikelamt der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien ausgestellte Geburtszeugnis für Singer vom 25.5.1921. Nach einem Vermerk des Matrikelamtes war Singer jedoch am 23.10.1919 aus dem Judentum ausgetreten (LI LA V 003/979).
[7] Vgl. hiezu das Fürstliche Handschreiben vom 10.2.1920 betreffend Gewährung eines unverzinslichen Darlehens an das Fürstentum Liechtenstein für die Lebensmittelschuld und für Beamtengehalte, LGBl. 1920 Nr. 4: Das Darlehen über 550‘000 Franken diente in erster Linie der Rückzahlung der bei der Schweizerischen Kreditanstalt in Zürich bestehenden Lebensmittelschuld des Landes.
[8] Die Bürgerversammlung der Gemeinde Vaduz sicherte Singer und seinen 4 Kindern am 17.2.1921 für den Fall der Erlangung der liechtensteinischen Staatsbürgerschaft und unter der Bedingung, eine Aufnahmstaxe von 20‘000 Franken zu bezahlen, das Gemeindebürgerrecht zu (vgl. die "Einbürgerungsurkunde" vom 17.2.1921 unter LI LA RE 1921/0876; vgl. ferner LI GAV A 01/482/2). Ein gewichtiges Argument für die Annahme des Gesuches war das Versprechen Singers, den Betrieb der Weberei in Mühleholz wieder aufzunehmen und damit Arbeitsplätze zu schaffen. Auch sicherte er die Zahlung einer jährlichen Einkommenssteuer von 30‘000 Franken zu (Schreiben von Josef Ospelt an Prinz Eduard von Liechtenstein vom 19.4.1921 (LI LA RE 1921/0876); Schreiben Singers an Prinz Eduard vom 27.5.1921 (LI LA V 003/0980 (Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien: Nr. 275/1)). Im September 1921 konnte Singer aber diese Summe nicht mehr garantieren, weil sein Einkommen in österreichischen Kronen bestand, die einem "ungeheuren Kurssturz" unterlagen (Schreiben der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien bzw. des liechtensteinischen Geschäftsträgers Alfred von Baldass an die liechtensteinische Regierung vom 7.9.1921 unter LI LA RE 1921/4094 ad 0876 bzw. unter LI LA V 003/0980 (Aktenzeichen der Gesandtschaft: Nr. 275/3)).