Der Verfassungsentwurf von Josef Peer wird vom Landtag in Generaldebatte behandelt und an eine Verfassungskommission überwiesen


Handschriftliches Protokoll der öffentlichen Landtagssitzung, gez. Emil Risch [1]

8.3.1921

Präs. [Friedrich] Walser: ergreift nun das Wort & sagt, dass die Regierungsvorlage betreffend Abänderung der Verfassung bezw. Verfassungsentwurf [2] allen Abg. zugegangen sei. Er macht den Vorschlag hierüber eine Generaldebatte zu eröffnen & dann die Vorlage an eine Kommission zu verweisen, die statt wie bisher fünfgliedrig, siebengliedrig sein solle.

Reg. Chef Dr. [Josef] Peer: ersucht ums Wort zu folgenden einleitenden Erklärungen:

„In dem Augenblicke, in dem die fürstl. Regierung dem hohen Hause den Entwurf einer neuen Verfassung vorlegt, erscheint es mir angezeigt, dass ich als derzeitiger Chef der Regierung & als Verfasser des Entwurfes dem hohen Hause in Kürze die Vorgeschichte dieses Entwurfes darstelle & in gleicher Weise eine Übersicht über einzelne wesentliche Neuerungen gebe, die der Entwurf gegenüber der geltenden Verfassung bedingt.

Am 9. September 1920 wurde ich von Sr. Durchlaucht dem regierenden Fürsten [Johann II.] zu dem Zwecke hierher berufen, um im Wege mündlicher Verhandlungen mit den Führern der liechtenst. Volkspartei eine Entwirrung der damals bekanntlich einer solchen bedürftig gewordenen Verhältnisse im Lande anzubahnen.

Diese Verhandlungen begannen am 10. Septbr 1920 & wurden in der Zeit bis 15. Septbr fortgesetzt & zu Ende geführt.

Als Vertreter der Volkspartei erschienen zunächst die Herren Landtagsabg. Dr. [Wilhelm] Beck & [Gustav] Schädler, im weiteren Verlaufe auch der Parteiobmann Herr [Anton] Walser-Kirchthaler & zum Schlusse noch einige weitere Parteidelegierte; [3] mir zur Seite stand der Vorstand der fürstl. Kabinettskanzlei Herr Kabinettsrat Josef Martin.

Die Herren Vertreter der Volkspartei brachten eine Reihe von Wünschen vor, die sich hauptsächlich noch auf die Revision der Verfassung des Fürstentums bezogen & die sie als die Wünsche Ihrer Partei, bezw. der Mehrheit der Bevölkerung des Fürstentums bezeichneten.

In den sich hieran anschliessenden Verhandlungen wurden diese Wünsche & die ihnen entsprechenden Richtlinien für die Verfassungsrevision formuliert.

Seine Durchlaucht der Fürst, dem Herr Kabinettsrat Martin & ich das Ergebnis der Verhandlungen vortrugen, geruhte sodann mit den höchsten Entschliessungen vom 11. u. 13. Septbr. 1920 [4] zu erklären, dass er seine Regierung beauftragen werde, dem Landtage ehestens eine Verfassungsrevisionsvorlage unter Einhaltung der, dem Ergebnisse der gepflogenen Verhandlungen entsprechenden Richtlinien zur Schlussfassung vorzulegen.

In einem Schlussprotokolle sprachen sodann die Herren Vertreter der Volkspartei noch einige Wünsche aus, denen durch Erklärungen meinerseits Rechnung getragen wurde. [5] 

Unter diesen Wünschen befand sich auch der, dass meine, von Seiner Durchlaucht mit höchster Resolution vom 11. Septbr. auf die Dauer eines Jahres in Aussicht genommene Berufung zur prov. Leitung der Regierungsgeschäfte auf die Dauer eines halben Jahres eingeschränkt werde. [6]

Mit dem höchsten Handschreiben vom 15. Septbr. 1920 geruhte sohin Seine Durchlaucht, mich provisorisch auf die Dauer eines halben Jahres als Leiter der Regierungsgeschäfte ins Land zu berufen, wobei unter den mir zugedachten Aufgaben an erster Stelle jene der Durchführung der Verfassungsrevision erwähnte wurde. [7] 

Am 21. Septbr. legte ich in die Hände Seiner Durchlaucht den vorgeschriebenen Amtseid ab & am 23. Septbr. habe ich hier mein Amt angetreten & in der Folgezeit den, den Herrn Abgeordneten vor einiger Zeit über Wunsch des Herrn Landtagspräsidenten zugesandten Verfassungsrevisionsentwurf ausgearbeitet, dem Seine Durchlaucht unter dem 12. Jänner die Vorsanktion zu erteilen geruhte. [8]

Wenn es mir zu meinem eigenen lebhaften Bedauern nicht möglich war, diese Vorlage früher fertigzustellen & dem hohen Hause zugehen zu lassen, so liegt der Grund einzig & allein darin, dass ich mich dieser Arbeit bei der Fülle anderer dringender & zeitraubender Arbeiten, die ich hier vorfand & die mir immer wieder gegenübertraten, nur in meiner sogenannten freien Zeit, das ist in den Nachtstunden & an Sonn- & Feiertagen widmen konnte. Dies bitte ich auch als Entschuldigung gelten zu lassen, wenn sich im Entwurfe noch da oder dort technische oder stilistische Unebenheiten finden sollten, die ich bei genügender Zeit hätte beseitigen können. Ich zog es jedoch vor, den Entwurf baldmöglichst vor das hohe Haus zu bringen & allfällige Mängel der erwähnten Art gelegentlich der Verhandlungen in der Kommission, der ja der Entwurf zuzuweisen sein wird, auszumerzen & glaube, in dieser Richtung auf die Billigung meines Vorgehens seitens des hohen Hauses rechnen zu dürfen. 

Das hohe Haus wolle mir nun gestatten, dass ich in kurzer, übersichtlicher Darstellung auf den Inhalt des Entwurfes eingehe. Soweit derselbe nicht durch die vereinbarten & von Seiner Durchlaucht genehmigten Richtlinien vorgezeichnet war, glaubte ich, einerseits an bewährten bestehenden Einrichtungen & Bestimmungen festhalten zu sollen [9] & anderseits für unser Land zwar neue, aber anderorts & insbesondere in schweizerischen Kantonalverfassungen bereits erprobte Institutionen & Bestimmungen aufnehmen zu dürfen. [10] 

In verschiedenen Belangen diente mir auch der seinerzeit von Herrn Abg. Dr. Beck ausgearbeitete Verfassungsentwurf als schätzbarer Behelf [11] & ich glaube, mit diesen Quellenangaben einem Gebote der Ehrlichkeit zu entsprechen & keinen Vorwurf, dafür zu verdienen, wenn ich das Gute, oder das, was ich eben für gut ansah, dort nahm, wo ich es fand.

Die mehrerwähnten Richtlinien waren im Wesentlichen folgende:

Staatsrechtlich wird das Fürstentum als konstitutionelle Erbmonarchie auf demokratischer & parlamentarischer Grundlage bezeichnet; die Staatsgewalt ist im Fürsten & im Volke verankert.

Der Landtag hat künftig nur mehr aus volksgewählten Abgeordneten zu bestehen; die Einrichtung der fürstl. Abgeordneten wird aufgelassen.

Bei Änderung der Landtagswahlordnung ist das Proportionalwahlrecht einzuführen & die Zahl der Abgeordneten im Verhältnis zur Bevölkerungszahl festzulegen. Hiezu möchte ich einschaltend bemerken, dass nicht die Vertreter der Volkspartei es waren, welche die Einführung des Proportionalwahlrechtes wünschten, sondern dass die Anregung zur Aufnahme dieser Bestimmungen von Seiner Durchlaucht dem Fürsten ausging & dass sodann die Herren Vertreter der Volkspartei lediglich den Wunsch aussprachen, es mögen die Bestimmungen des Proportionalwahlrechtes auch dann sinngemäss angewendet werden, wenn der Landtag im Wege der Wahl Kommissionen oder Behörden zu beschicken habe.

Der Landtag ist nach Bedarf, jedenfalls aber über begründetes schriftliches Verlangen von wenigstens 300 wahlberechtigten Landesbürgern oder über Gemeindeversammlungsbeschlüsse von wenigstens 3 Gemeinden einzuberufen. 

Er übt sein Kontrollrecht gegenüber der Staatsverwaltung durch eine von ihm zu wählende Geschäftsprüfungskommission aus.

Initiative & Referendum werden unter Fixierung der erforderlichen Stimmenzahl neu eingeführt.

Die Regierung ist dem Landtage & dem Fürsten verantwortlich; an ihrer Spitze steht der Landammann, der, ebenso wie sein Stellvertreter vom Fürsten einvernehmlich mit dem Landtage über dessen Vorschlag ernannt wird & ein gebürtiger Liechtensteiner sein muss.

Die Regierung, deren Funktionsdauer mit jener des Landtages zusammenfällt, ist teils eine kollegiale, teils eine Ressortregierung.

Gegen Regierungsmitglieder, die durch ihre Amtsführung das Vertrauen des Volkes & des Landtages verlieren, kann letzterer beim Fürsten die Enthebung beantragen.

Alle Verwaltungs- & Justizbehörden, mit Ausnahme des „Obersten Gerichts-Hofes", sind ins Land zu verlegen. Kollegiale Behörden sind mindestens mehrheitlich mit Liechtensteinern zu besetzen.

Als Gerichtshof des öffentlichen Rechtes ist ein Staatsgerichtshof vom Landtage zu wählen, dessen Präsident ein gebürtiger Liechtensteiner sein muss.

Die nähere Umschreibung seiner Aufgaben enthält der § 104 der Vorlage. [12] Seine Mitglieder sollen mehrheitlich Liechtensteiner sein.

Für die Anstellung im liechtenst. Staatsdienste ist, unbeschadet weitergehender Bestimmungen der Verfassung, das liechtenst. Staatsbürgerrecht erforderlich; Ausnahmen sind nur mit Zustimmung des Landtages zulässig.

Indem ich nun dem hohen Hause diesen Entwurf einer neuen Verfassung vorlege & um dessen Annahme bitte, habe ich einen, allerdings wesentlichen Teil der mir bei meiner Berufung zugedachten Aufgaben erfüllt. Wenn es mir zu meinem eigenen lebhaften Bedauern nicht möglich war, in der mir zugemessenen Zeit auch den übrigen, mir zugedachten Aufgaben zu entsprechen, so glaube ich, zu einer Entlastung behaupten zu dürfen, dass ich tat, was ich eben konnte. Dafür, dass ich Verhältnisse vorfand, die zeitlich beträchtlich hinter meine Amtstätigkeit zurückreichen, jedoch meine Arbeitskraft dringlich & in vollem Umfange in Anspruch nahmen & dass meine Zeit, wie meine Arbeitskraft gar oft durch Umstände konsumiert wurden, die ich nicht voraussehen konnte & die sich ganz ohne mein Zutun einstellten, wird mich wohl im Ernste niemand verantwortlich machen wollen.

Wie bereits erwähnt, läuft die sechsmonatliche Frist, für die ich provisorisch auf den Posten des Regierungschefs berufen wurde, noch in diesem Monate ab, wobei es für mich keinen wesentlichen Unterschied ausmacht, ob diese Frist am 15., am 21. oder am 23. März als beendet angesehen wird. Ich werde mein Versprechen halten, nach sechs Monaten von meinem Posten zurücktreten, einlösen, indem ich an einem der erwähnten Tage, spätestens am 23. März mein Amt in die Hände Seiner Durchlaucht, unseres gnädigsten Landesherrn, von dem ich es empfangen habe, zurücklegen werde.

Ich kann mit ruhigem Gewissen behaupten, dass ich während der Zeit meines Hierseins nach besten Kräften bemüht war, mein Amt objektiv zu führen & dass ich mich stets nur von der Bedachtnahme auf das Wohl des Landes leiten liess.

Allen jenen, die mir vertrauensvoll gegenübertraten & mich in meinem auf das Wohl des Landes & seiner Bewohner gerichteten Bestreben mit Rat & Tat unterstützten, danke ich hiefür aufs wärmste."

Abg. Dr. [Eugen] Nipp: Der Herr Regierungschef hat soeben mehrere Punkte angetönt, die schon längere Zeit Unstimmigkeiten verursachten. Es wurden bei den Schlossabmachungen im Septbr. 1920 eben viele Punkte aufgenommen ohne Wissen & Willen der Bürgerpartei. Wir waren in vielen Punkten vor vollendete Tatsachen gestellt. Viele Punkte erfuhren wir erst aus den Oberrh. Nachrichten.

Ich bin überzeugt, dass der Fürst nicht verlangt, dass ich als fürstl. Abg. gegen meine Überzeugung stimme, trotzdem er schon seine Vorsanktion zur Vorlage gegeben hat. Ebenso bin ich überzeugt, dass der Fürst einverstanden ist, ob die Vorlage so oder so abgeändert wird, wenn es der Wille der Volksmehrheit ist. Es wurde im Septbr. 1920 auf dem Schlosse dem Fürsten von den Delegierten der Volkspartei angegeben, ihre Wünsche seien die Wünsche der Mehrheit des Volkes.

Abg. [Johann] Wanger: Die Ausführungen Dr. Nipp’s muss ich bestätigen & unterstützen; bei den Schlossabmachungen im Septbr. wurde weder die Bürgerpartei, noch der Volkswille gefragt.

Präs. Walser: Anschliessend an Dr. Nipp’s Ausführungen müsse auch er bemerken, dass bei den Schlossabmachungen nicht die wahre Demokratie berücksichtigt wurde. Von 15 Abg. seien nur 2 gewesen & Volksabgeordnete sogar bloss einer. [13] Der Landtag habe deshalb in den strittigen Artikel freie Hand. Dem Vater des Verfassungsentwurfes spreche er den Dank aus.

Wahl einer siebengliedrigen Verfassungskommission:

Es wurden gewählt:

1. Präs. Walser mit 12 Stimmen. 

2. Abg. [Josef] Gassner mit 12 Stimmen.

3. Abg. [Franz Josef] Marxer mit 12 Stimmen.

4. Abg. [Albert] Wolfinger mit 12 Stimmen.

5. Abg. Pet. [Peter] Büchel mit 11 Stimmen.

6. Abg. E. Risch mit 11 Stimmen.

7. Abg. Dr. Nipp mit 10 Stimmen. [14]

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[1] LI LA LTA 1921/S04/2.
[2] Vgl. LI LA RE 1921/0963: Die von Regierungschef Josef Peer ausgearbeitete Regierungsvorlage war von Fürst Johann II. am 12.1.1921 „vorsanktioniert" und vom fürstlichen Kabinettsrat Josef Martin am selben Tag gegengezeichnet worden. Den Landtagsabgeordneten ging eine gedruckte, geringfügig veränderte Fassung dieser Vorlage zu (LI LA LTA 1921/L03, o.D.).
[3] Es waren dies die zusätzlichen Volkspartei-Delegierten Felix Hasler, Alois Frick und Andreas Vogt.
[4] LI PA VU, Schlossabmachungen, Nr. 7, Entschliessung des Fürsten Johann II. auf der Grundlage der Schlossabmachungen, Vaduz, 11.9.1920; LI PA VU, Schlossabmachungen, Nr. 8, Modifikation der Entschliessung des Fürsten Johann II. auf der Grundlage der Schlossabmachungen, Vaduz, 13.9.1920.
[5] Vermutlich ist hierbei folgendes Dokument angesprochen: LI PA VU, Schlossabmachungen, Nr. 9, Protokoll der Sitzung vom 14.9.1920.
[6] Vgl. ebd., Z. VI; ferner LI PA VU, Schlossabmachungen, o.Nr., Vaduz, 15.9.1920, Z. II.
[7] Vgl. dazu: O.N., Nr. 75, 18.9.1920, S. 1 („Meine lieben Liechtensteiner!"); L.Vo., Nr. 75, 18.9.1920, S. 1 („Meine lieben Liechtensteiner!").
[8] Verfassungsentwurf bzw. Regierungsvorlage von Josef Peer vom 12.1.1921 (LI LA RE 1921/0963).
[9] Vgl. die liechtensteinische Verfassung vom 26.9.1862.
[10] Vgl. insbesondere die Verfassung des Kantons St. Gallen vom 16.11.1890.
[11] Der Verfassungsentwurf von Wilhelm Beck wurde in im Juni 1920 in den „Oberrheinischen Nachrichten" publiziert: O.N., Nr. 47, 12.6.1920, S. 1 („Verfassungs-Entwurf des Fürstentums Liechtenstein"); O.N., Nr. 48, 16.6.1920, S. 1; O.N., Nr. 49, 19.6.1920, S. 1; O.N., Nr. 50, 23.6.1920, S. 1-2; O.N., Nr. 51, 26.6.1920, S. 1; O.N., Nr. 52, 30.6.1920, S. 2.
[12] Vgl. hiezu Fussnote 8.
[13] Es handelte sich um die bereits genannten Landtagsabgeordneten Wilhelm Beck und Gustav Schädler, letzterer war ein fürstlicher Abgeordneter.  
[14] Vgl. den gedruckten Bericht über die in den Sitzungen vom 15. und 18.3.1921 gefassten Beschlüsse der Verfassungskommission (LI LA LTA 1921/L03).