Ein oppositioneller Liechtensteiner bedauert, dass Liechtenstein nicht zur Pariser Friedenskonferenz eingeladen wurde, und fordert für die Liechtensteiner das Selbstbestimmungsrecht


Zeitungsartikel im St.Galler Tagblatt, nicht gez. [1]

20.5.1919

Die Zukunft des Fürstentums Liechtenstein

b. Das „Journal de Genève“ hat neulich unter dem Titel „Ein vergessener Staat“ zwei Artikel über das Liechtenstein gebracht, worin neben der Skizzierung seiner Geschichte erwähnt war, es sei von der Friedenskonferenz nicht eingeladen worden Vertreter nach Paris zu senden. Mit Bezugnahme hierauf wird dem Genfer Blatte aus dem Vaduzer Ländchen selbst geschrieben:

„Während des Krieges hatte Liechtenstein viel unter den Übergriffen der österreichischen Beamten zu leiden. An der Grenze wurde die Postzensur eingeführt und der Briefverkehr mit der Schweiz überwacht. Die Zollbeamten begünstigten den Schmuggel aus der Schweiz nach Österreich, während sie die des Schmuggels verdächtigen Liechtensteiner des Landes verwiesen. Dieses Unterdrückungssystem erregte den Zorn der Bevölkerung, die keine Zollvereinigung mit Österreich mehr wünscht, wohl aber die wirtschaftliche Union mit der Schweiz. Die Mehrheit der Liechtensteiner sähe den Anschluss der Vorarlberger an Ihr befreundetes Land gern und könnte sich ganz wohl mit dem Gedanken vertraut machen, selbst Schweizer zu werden.

Unser Fürst [Johann II. von Liechtenstein] ist es im Grunde nur dem Namen nach. Er kennt sein Land kaum und wenige der Unsrigen kennen ihn. Wenn ihm die Sympathien der Geistlichkeit und eines Teiles der Bevölkerung geblieben sind, so ist dies nicht die Folge persönlicher Beziehungen, sondern der der Kirche gemachten Geschenke. Für unser Land ist er nicht ein Regent im wahren Sinne, denn er überlässt die Regierung einem österreichischen Beamten vom niedern Adel, der uns despotisch behandelt. Darüber ist das Volk unzufrieden und sagt offen, es lebe in Kleinrussland. In letzter Zeit entstand eine von Dr. [Wilhelm] Beck geleitete Bewegung, um dieses mittelalterliche Regime zu beseitigen. Das Volk verlangt, dass alle jetzt in Innsbruck und Wien befindlichen Regierungsorgane ins Land versetzt und die fürstliche Kanzlei in Wien aufgehoben werde.

Wie Sie richtig meldeten, hat die Entete leider unterlassen, die Vertreter Liechtensteins zur Friedenskonferenz einzuladen. Es ist zu wünschen, dass dieses Vergessen gutgemacht und dem Liechtenstein gestattet werde, seine Wünsche zu formulieren, weniger für die Dynastie als für seinen wirtschaftlichen Anschluss an ein anderes Land, das nur die Schweiz sein kann.

Wie man sagt, soll sich die Pariser Konferenz vorab mit der Wahrung der dynastischen Interessen befassen, während die Landesinteressen den Vorrang haben sollten. Man weiss noch nicht, ob unsere Liliputmonarchie als einzige in Zentraleuropa weiter bestehen kann, oder ob nicht doch der republikanische Gedanke schliesslich bei uns den Sieg davontragen wird. Wenn die Entente über unser Ländchen verfügen will, verlangt die Bevölkerung, mit der Schweiz verbunden zu werden. Hoffen wir, dass uns das Recht der Selbstbestimmung gewahrt bleibe.“

Laut den Vaduzer Blättern soll sich ein Mitglied der regierenden Familie, wahrscheinlich Prinz Franz, Bruder des Herrschers, demnächst in Begleit von Dr. [Emil] Beck, Privatdozent an der Universität Bern, nach Paris begeben, um die Interessen Liechtensteins vor der Friedenskonferenz zu vertreten.

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[1] St.Galler Tagblatt, nicht gez. 20.5.1919, Nr. 122 (LI LA SgZs 1919)