Martina Gstöhl an ihre Schwester Balbina Gstöhl über den Wunsch nach einem Besuch aus Amerika, die Lebensmittel- und Stoffpreise in Österreich, den Verdienst und die Abzüge der Tochter Katharina als Fabrikarbeiterin, die Reformen der Sozialisten und den Wechselkurs des Dollars


Handschriftliches Originalschreiben der Martina Hartmann [-Gstöhl], Ludesch (Vorarlberg), an ihre Schwester Balbina (Marie Balbina Öhri [-Gstöhl]), Spencer (Nebraska) [1]

o.D. (30.12.1922) [2], Ludesch (Vorarlberg)

Liebe Schwester u.
Famielie!
[3]

Wünschen Euch vor Allem
ein glükliches Neujahr 1923
. [4]
Der lb. Gott möge Euch noch
recht viele Jahre gesund u. froh
beisammen leben lassen.
Alles was Ihr Euch wünscht,
möge er Euch geben, u. Euch
recht bald nach Österreich bringen.
O wie lange haben wir von
Euch schon nichts mehr gehört.
Schreibe doch bald lb. Schwester
wie es Dir u. Deiner Familie
geht. Wir bekamen bis dato
nie keine Antwort auf unser
Brief. Wie ist es Dir ergangen [5]
im Spital [6], bist Du jetzt wieder
gut. Bei uns geht es so ziemlich
im Alten, jetzt darf man nur
waker Geld haben, dann bekommt
man Alles, wie vor dem Kriege.
Fleisch ist jetzt am billigsten.
Das Kilo kostet 12-14‘000 Kr. [Kronen]
Mehl Kilo 7-8000 Kr. Brot
der Weggen weiss [7] 6000 schwarz
5000 Kr. Schweinefett 28‘000 Kr. das Kilo.
Zuker 10-12‘000 Kr. Kilo Eier das
Stk. 2000-2500 Kr. hier würdest
Du mehr erzielen mit den Hühner
wie in Amerika, Milch der Liter
3000 war aber schon auf 3200 Kr.
Stoff ist auch sehr theuer. Ich
hab der Tochter [Katharina] Stoff gekauft zu
einem Mantel 3 Meter der Meter [8]
115‘000 Kr., ein Mt. Futter 60‘000 Kr.
der Macherlohn 82‘000 Kr. samt
Knöpf u. Zubehör. Ich habe ihr müssen
etwas kaufen, sie hat auf den
Winter nichts gehabt. Sie geht
in die Fabrik u. hat in 14 Tagen
140-150‘000 Kr. wie lange muss
man einem Juden arbeiten
bis man nur eine Joppe kaufen
kann. Der Mann [Johann Josef Hartmann] hat Schuhe an-
messen lassen, kosten zwischen
3-400‘000 Kr. man darf bald
in kein Geschäft mehr um
Einkauf ohne 1 Million.
Es heisst immer von Preis-Abbau,
aber bis jetzt ist nur Taglohn-Abbau.
z. B. in der Fabrik wo unsere
Tochter geht, dort müssens mehr [9]
als 4 Tage im Monat arbeiten
nur für Krankenkasse, Arbeits-
losenunterstüzung, Arbeiter-
kammer, Einkommensteuer, Organisa-
zion, u. noch einige Tausend
man kann nicht lesen für was.
Jetzt soll dann erst noch jede
Familie, ausgenommen die
Bauern, Arbeitslosenunter-
stüzung bezahlen. So weit haben
die Sozi in Österreich gearbeitet,
dass man blos mehr weiss wie
Österreich zu retten ist. Nun
ich will mich gar nicht beklagen
wenn nur die Tochter u. Mann
gesund bleiben.

Wie geht es der Lena [Magdalena Connot [-Öhri]] u. Andreas [Öhri]?
Wünschen Ihnen auch viel Glük
zum neuen Jahr, alles Gute. [10]

Wir hofften den ganzen Sommer
einen Besuch von Euch weil so-
viel Östreicher von Amerika hier
waren. Gegenwärtig steht wieder
in der Zeitung, dass im Frühjahr
wieder soviel Gesellschafts-Schiffe
von Amerika nach Östreich kommen.
Vielleicht kann man auch Euch er-
hoffen. Hier in Östreich würde
die Bahnfahrt nicht sehr theuer
sein, denn der Dolar ist, soviel in
der Zeitung steht 70‘000 Kr.
O würde uns das freuen, wenn man
könnte, wieder einmal beisamen
sein u. so von den Lebensereignissen
erzählen. Kommt doch einmal, nur
den Sommer über, dann könnt Ihr
sehen, wie es Euch hier jetzt ge- [11]
fallen würde. Wenn man Geld
hat zum etwas anfangen geht es
nicht schlecht hier. Unser Nachbar
thut Holz handeln, Käs u. Butter
handeln, hat eine Famielie mit
8 Köpf, jetzt hat er schon können
ein Pferd kaufen zum herum
fahren, um 10 Millionen.
Einer handelt od. hausiert mit
Stoff, er verdient ein schönes Geld
u. kennt den Stoff aber nicht, er
weiss nicht ist es Futter oder Lüster,
u. so machen es viele hier.
Kommt einmal nur auf
ein halbes Jahr, dann könnt Ihr sehn
wie es hier zu u. her geht, hie
u. da einmal fast zum lachen.
Früher hat es denn geheissen: [12]
wer nicht arbeitet soll auch
nicht essen, jetzt aber ist es fast
umgekehrt.

Wenn nur Alle von Euch den
Sommer hier kommen könnt, wir
möchten so gerne Euch mit sammt
Famielie hier haben. Unsere
Tochter war am Stefanstag
16 Jahre alt u. aber grösser wie
ich. Sie sagt oft u. oft, Alles
fast ist letzten Sommer nach
Österreich gekommen, aber
unsere kommen nicht.

Ich will nicht grad sagen,
dass es hier sehr schön sei, aber
man müsste auch nicht immer
zu Hause bleiben, man könnte
auch da u. dort hin gehen hamstern. [13]
Dann würde man nicht einmal
die Zeit vergäudet haben, man
könnte noch ein Geschäft machen.
O kommt doch, wir wollen Euch
thun, was wir nur im Stande
sind, damit Ihr Euch nicht
langweilen würd bei uns, wir
hätten ja einander vieles
zu erzählen, u. mit unter
schauen was die Lichtensteiner
machen. Also im Frühjahr bestimmt.

Nochmals die besten Wünsche
an Euch Alle in Amerika
mit vielen tausend Grüssen
von uns Allen

besonders aber von Deiner
Schwester Martina

hoffe baldiges Wiedersehn.

______________

[1] LI LA PA 016/3/11/13. Kuvert liegt bei.
[2] Poststempel vom 30.12.1922.
[3] In lateinischer Schrift.
[4] In lateinischer Schrift.
[5] Seitenwechsel.
[6] In lateinischer Schrift.
[7] Ursprüngliche Fassung: „weiẞ“. Das Eszett wird im Folgenden zu „ss“ umgewandelt.
[8] Seitenwechsel.
[9] Seitenwechsel.
[10] Seitenwechsel.
[11] Seitenwechsel.
[12] Seitenwechsel.
[13] Seitenwechsel.